Zerhäckselt oder im Fluss? Warum Scrum oft mehr schadet als nützt – und wie visuelle Klarheit rettet

Visuelle Draufsicht einer System Map in Miro, die die separaten Arbeitsbereiche von 'Team 1', 'Team 2' und 'Team 3' als organisatorische Silos zeigt.

System-Lektion #3


Die Dissonanz (Der universelle Schmerz)

Das Versprechen agiler Methoden wie Scrum klingt verlockend: Flexibilität, schnelle Sprints, klare Rollen. Doch die gelebte Realität in vielen Teams ist eine andere. Statt eines organischen Flusses erleben sie ein mechanistisches Zerhäckseln von Aufgaben. Der Blick fürs große Ganze geht verloren, die Kreativität erstickt in starren Zeremonien, und die eigentliche Wertschöpfung wird zur Nebensache degradiert.

Besonders schmerzhaft wird diese Dissonanz, wenn neue Teammitglieder oder unerfahrene Führungskräfte versuchen, in diesem System Fuß zu fassen. Sie sollen Verantwortung übernehmen, aber die Methode selbst liefert ihnen oft nur Puzzleteile statt des Gesamtbildes. Das Ergebnis: Frustration, Überforderung und eine Performance, die weit unter dem Potenzial des Teams bleibt.

Der Ruf zur Allianz (Der spezifische Job-to-be-Done)

Ich erlebte diese Dynamik hautnah in einem Unternehmen, das gerade ein Spin-Off vollzog – ein klassisches Szenario für Aufbruchsstimmung, aber auch für Chaos. Umzug, neue Büros, Personalrochaden. Inmitten dieses Trubels wurde eine langjährige Mitarbeiterin zur Product Ownerin (PO) befördert – eine anspruchsvolle Rolle, für die ihr die Erfahrung fehlte.

Mein Auftrag war zunächst rein technisch: Als UI-Designer sollte ich das Team mit den nötigen Assets versorgen. Doch schnell wurde klar: Der wahre „Job-to-be-Done“ lag tiefer. Die junge PO kämpfte darum, sich in ihrer neuen Rolle zu etablieren und den Überblick über die komplexen Prozesse zu gewinnen, die ihr Team verantwortete. Das rigide Scrum-Korsett gab ihr zwar Aufgabenlisten, aber keine echte Orientierung. Sie brauchte keine weiteren Tickets, sie brauchte Klarheit.

Die Offene Werkstatt (Die funktionale Schönheit)

Mein Ansatz war radikal pragmatisch: Wir mussten das System sichtbar machen. Statt uns in Scrum-Artefakten zu verlieren, erarbeiteten wir gemeinsam einen visuellen Flow – eine einfache, aber umfassende Landkarte des gesamten Wertschöpfungsprozesses, für den das Team verantwortlich war.

Funktionale Schönheit: Dieser visuelle Flow ersetzte keine Tickets, aber er schuf die fehlende Meta-Ebene. Er zeigte nicht nur das ‚Was‘, sondern das ‚Wie‘ und ‚Warum‘ der Zusammenarbeit – klar, verständlich und für jeden im Team zugänglich.

Dieser Flow war keine hübsche Grafik, sondern ein funktionaler Bauplan. Er zeigte: Wer macht was? Wann erfolgt die Übergabe? Welche Informationen werden benötigt? Wo sind die kritischen Schnittstellen?

Dieser digitale Flow wurde unser zentrales Kommunikationsmittel. Statt an einer Wand zu hängen, wurde er in allen Meetings – ob Weekly auf PO-Ebene oder Daily im Team – auf großen Bildschirmen projiziert. Er wurde zur gemeinsamen Sprache, machte die Meetings kreativer, lebendiger, leichter und – ja, die Arbeit damit machte dem Team tatsächlich Spaß.

Die systemische Lektion (Die gewonnene Weisheit)

Der Effekt war transformativ – insbesondere für die junge PO. Mit dieser visuellen Landkarte in der Hand konnte sie plötzlich souverän agieren. Sie verstand die Zusammenhänge, konnte fundierte Priorisierungen vornehmen und ihr Team klar führen. Sie verschaffte sich schnell ein starkes Standing in der Runde der erfahreneren POs – so sehr, dass diese bald ebenfalls nach dieser Flow-Methode fragten. Die Hierarchie wurde durch die gemeinsame, objektive Referenz des Flows ausgeglichen.

  • Lektion 1 (Empowerment): Funktionale Klarheit ist Macht. Eine einfache, visuelle Darstellung komplexer Realität kann Individuen schneller und nachhaltiger befähigen als jede theoretische Schulung oder starre Rollendefinition.

Gleichzeitig offenbarte der Erfolg des Flows die Schwäche des Systems: Scrum, in seiner dogmatischen Anwendung, wirkte wie ein Häcksler, der das ganzheitliche Verständnis zerstörte. Der Flow hingegen förderte Kreativität und teamübergreifendes Denken, was sich direkt in der Performance niederschlug.

  • Lektion 2 (Kollaboration): Ganzheitliche, visuelle Methoden ermöglichen organischen Fluss und fördern Performance (und Freude!), während rein mechanistische Kontrollmethoden oft das Gegenteil bewirken.

Das Ergebnis (Die ehrliche Konsequenz & das Zeugnis)

Auf Team-Ebene war die Einführung des visuellen Flows ein voller Erfolg. Die PO etablierte sich souverän, das Team war motiviert, die Performance stieg. Die positive Dynamik war so überzeugend, dass mir die Leitung des Designteams angeboten wurde – ein klarer Beleg für das Vertrauen in die Methode und meine Rolle als „zweiter Mann“.

Doch die Geschichte endet hier anders als erwartet. Bevor ich die feste Position antreten konnte, schlug die externe Realität zu: Die Corona-Pandemie führte zu sofortigen, unternehmensweiten Budgetkürzungen. Alle externen Kräfte, inklusive mir, wurden aus dem Projekt entlassen.

  • Lektion 3 (Realität): Selbst die erfolgreichste Methode und die positivste Teamdynamik sind externen Schocks und übergeordneten wirtschaftlichen Zwängen unterworfen. Transformation braucht nicht nur interne Klarheit, sondern auch ein stabiles Umfeld oder die Macht, dieses zu sichern.

Das positive Zeugnis dieser Autopsie: Die PO blieb im Unternehmen, ist bis heute erfolgreich und glücklich in ihrer Rolle. Die durch den visuellen Flow geschaffene Klarheit war eine nachhaltige Befähigung, die auch nach meinem Weggang Bestand hatte.

Diese Lektion ist keine reine Erfolgsgeschichte im klassischen Sinne. Sie ist eine schonungslose Demonstration, wie funktionale Klarheit Menschen befähigt und Teams beflügelt – aber auch, wie fragil solche Erfolge sein können, wenn das größere System instabil wird. Sie ist ein Plädoyer dafür, Methoden als Werkzeuge im Dienst des Menschen zu sehen und gleichzeitig die Realitäten des Umfelds nie aus den Augen zu verlieren.

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